Empfohlen

Freiheit und Sicherheit: EGMR-Urteil gegen die Schweiz

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass die Taktik der Zürcher Polizei am 1. Mai 2011, etwa 500 Personen auf dem Helvetiaplatz in Zürich einzukesseln, die grundlegenden Rechte auf Freiheit und Sicherheit verletzt hat.

Zwei männliche Kläger, die während des Einkesselns festgehalten worden waren, hatten erfolglos gegen die Polizei vor Schweizer Gerichten geklagt. Der Erfolg ihrer Beschwerde beim EGMR gegen die hohe Vertragspartei Schweiz bestätigt nun die Unverhältnismäßigkeit des polizeilichen Vorgehens. Und leider bestätigt dieses EGMR-Urteil gegen die Schweiz auch einmal mehr die hoffnungslos rückständigen autoritär-patriarchalischen Ansichten, die immer noch die Schweizer Rechtspraxis prägen.

Im Jahr 2011 hatte Stadtrat Daniel Leupi von den Grünen die Leitung des Polizeidepartements inne und trug damit während des Vorfalls die exekutive Verantwortung. Seit 2013 leitet Daniel Leupi das Finanzdepartement der Stadt Zürich.

Zu diesem EGMR-Urteil gegen die Schweiz gibt es einen Bericht im Schweizer Fernsehen (staatlich, in deutscher Sprache).

Empfohlen

NEUSPRECH der Zürcher Justizdirektion

Wenn Staatsanwälte Freispruch und Verurteilung verwechseln

Wie kreativ Schweizer Juristen sein können, zeigt nicht nur ihr Bankenrecht oder ihr Anwaltsgesetz, die internationaler Geldwäscherei und Steuerbetrug seit Jahrzehnten den roten Teppich ausrollen. Wie kreativ sie sind, beweist jüngst – Neusprech der Zürcher Justizdirektion.

Die Justizdirektion Zürich übt sich in Neusprech.

Laut interner Kommunikation der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl sei ein „Urteil gegen A.B.* ergangen“. Interne Kommunikation?

Tatsächlich behauptete Staatsanwältin Daniela Senn 2023 in einer Verfügung, A.B. habe einer Anzeige als Beweismittel „ein gegen sie ergangenes Urteil“ beigelegt. Pikant daran ist, dass das Urteil, das A.B. der Anzeige beilegte, A.B. von der Anklage vollumfänglich freigesprochen hatte, und zwar nicht in dubio pro reo: Das Gericht hatte eindeutig rechtfertigende Gründe für die A.B. zur Last gelegte Tat erstellt. Die Staatsanwaltschaft Limattal/Albis, welche gegen A.B. Anklage erhoben hatte, hatte auf Weiterzug des Verfahrens verzichtet. Ebenso verzichtete die Privatklägerschaft, das Urteil weiterzuziehen.

Im Jahr 2023 liegt das gegen A.B. geführte Verfahren über 10 Jahre zurück. Der Freispruch zugunsten A.B. ist im Jahr 2023 seit über 10 Jahren rechtskräftig. Für eine Strafanzeige relevantes Beweismittel wird dieses Urteil im Jahr 2023 nur deshalb, da A.B. gegen eine Person Strafanzeige wegen Verleumdung einreicht: diese Person hatte in Schrift behauptet, A.B. sei damals verurteilt worden.

Staatsanwältin Daniela Senn, bei der die Anzeige gelandet war, reagierte flugs mit einer Nichtanhandnahmeverfügung. Primär begründete sie diese damit, die Verleumdung sei verjährt: Denn das Schriftstück, das die tatsachenwidrige Behauptung enthält, A.B. sei 2010 rechtskräftig verurteilt worden, wäre anscheinend 2017 verfaßt worden. Verjährt wäre die Verleumdung damit, obwohl A.B. erst 2023 Kenntnis erlangte von diesem Schriftstück, nachdem es nachweislich 2022 in Verkehr gebracht worden war. Zudem führte Daniela Senn in der Verfügung irreführend aus, als Beweismittel habe A.B. „ein gegen sie ergangenes Urteil“ eingereicht. Doch als Beweismittel hatte A.B. das Urteil gerade deshalb eingereicht, weil das Verfahren mit einem Freispruch zu ihren Gunsten ausgegangen war.

Gegen Daniela Senns Verfügung an sich reichte A.B. mit juristischen Gründen Beschwerde ein. Betreffend die Behauptung, sie habe ein gegen sie ergangenes Urteil als Beweismittel eingereicht, reichte A.B. zudem separat bei der Oberstaatsanwaltschaft Beschwerde ein: A.B. verlangte eine Erklärung, weshalb Staatsanwältin Daniela Senn gerade bezüglich des Punktes, um den es mit der Anzeige überhaupt geht, einen Fehler macht. In ihrer Nichtanhandnahmeverfügung verwechselt sie Schuldspruch und Freispruch in einem Urteil, das als Beweismittel die Tatsachenwidrigkeit der Behauptung, A.B. sei verurteilt worden, nachweisen soll. Im zentralsten Punkt des Verfahrens macht Daniela Senn einen folgenschweren Fehler. Schlendrian? Absicht? Nein…

NEUSPRECH der Zürcher Justizdirektion

Ob es Schlendrian war oder Absicht, kann die Oberstaatsanwaltschaft nicht sagen. Sie delegiert die Stellungnahme zur Beschwerde von A.B. an den Vorgesetzten von Daniela Senn, den leitenden Staatsanwalt Daniel Kloiber. Dieser macht es sich einfach. In seiner Antwort auf A.B.’s Beschwerde argumentiert Daniel Kloiber nun windig, die Aussage, ein Urteil sei gegen eine Person ergangen, enthalte keine Aussage dazu, ob ein Freispruch oder eine Verurteilung vorliegt (sic). Per Definition ist es NEUSPRECH, was Daniel Kloiber abliefert.

A.B. analysierte die vorliegende Problematik vermittels des Sprachmodells GPT-4. Die Konversation ist öffentlich einsehbar (Link anklicken). Die Analyse durch GPT-4 ergab, dass das Sprachmodell das Sprachverständnis von Daniel Kloiber als „unüblich“ beurteilte. Die Aussage, ein gegen eine Person ergangenes Urteil bedeute nicht, es liege eine Verurteilung vor, sei „irreführend“ und gerade im juristischen Kontext „problematisch“.
A.B. konfrontierte die Direktion des Inneren und der Justiz des Kantons Zürich mit diesem Befund. Die lapidare Antwort des Sachbearbeiters der Justizdirektion, Tassio Suter: „Aus unserer Sicht ist dem Schreiben von lic. iur. Daniel Kloiber nichts mehr hinzuzufügen.“ Auf die Einschätzung der Antwort Daniel Kloibers als „irreführend“ und „problematisch“ oder die Verwechslung durch Daniela Senn überhaupt ging Tassio Suter nicht ein. Diesen Fragestellungen wich er mit seiner lapidaren Antwort aus.

Abschliessend hinzuzufügen ist, dass wenigstens die Staatsanwaltschaft für besondere Untersuchungen in einer schriftlichen Stellungnahme einräumte, es handle sich um „eine unglückliche Formulierung“ der Staatsanwältin Daniela Senn. Amtsmissbrauch durch Daniela Senn verneinte die Staatsanwaltschaft für besondere Untersuchungen jedoch mit dem Argument, aus den Akten gehe hinreichend hervor, dass das Urteil mit einem Freispruch zugunsten von A.B. ausgefallen war. A.B. zog hierauf die Anzeige gegen Daniela Senn, die sie parallel zur Aufsichtsbeschwerde eingereicht hatte, zurück.

Übrig bleibt eine Diskussion über die Qualität bzw. über den Schlendrian, der bei den Zürcher Staatsanwaltschaften zu herrschen scheint. Übrig bleibt auch eine Diskussion über die Arroganz des Auftretens gewisser Jurist:innen. Übrig bleibt zuletzt eine Diskussion, ob es in einer Demokratie Raum für NEUSPRECH gibt oder nicht. Unserer Ansicht nach: ganz klar NEIN.

Wenn Aufsichtsbeschwerden bei Oberstaatsanwaltschaft und Justizdirektion des Kantons Zürich wie vorliegend ins Leere stossen, ist das ein Anzeichen, dass die demokratische Kontrolle der Behörden nicht funktioniert.

Update 12. November 2023:
A. B. wandte sich am 11. Oktober 2023 per Email an die Ombudsstelle des Kantons Zürich. Sie schickte den Link zu diesem Artikel und fragte bezüglich ihres oben geschilderten Erlebisses mit der Justizdirektion: "Wie sieht die Ombudsstelle des Kantons das Vorgehen im Kanton Zürich gegen fehlbare Staatsanwaltschaften und Staatsanwält:innen, wenn Aufsichtsbeschwerden offenbar nicht mehr ernst genommen und behandelt werden?" Am 12. November 2023 teilte A. B. dem Zurich Observer mit, sie habe keine Antwort der Ombudsstelle erhalten. Ombudsmann des Kantons Zürich ist Jürg Trachsel, Rechtsanwalt und Mitglied der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei.

Schweizer Folklore, »Stärneföfi!«

Ob Raclette, Jassen, Fondue, Lindauerli, Alphorn, Schwingen, Jodeln oder auch nur »ohni Znacht is Bett«, für Brauchtum und Folklore sind die Schweizer weltbekannt.

Auch »ohni Znacht is Bett« – zu Deutsch: ohne Abendbrot ins Bett – ist in gewissem Sinn Schweizer Brauchtum: Welches (ehemalige) Schweizer Kind kennt nicht diese elterliche Drohung, zur Strafe ohne Abendbrot ins Bett geschickt zu werden?

Hinweis: Im Kulturraum der Schweiz ist das Schlagen von Kindern aktuell nicht verboten. Die »erzieherische« Ohrfeige ist noch immer erlaubtes Erziehungsmittel und gesellschaftlich insbesondere in »bürgerlichen« Kreisen, die autoritären Erziehungsformen anhängen, sowie in offiziell bildungsfernen Schichten, die es (ebenfalls) nicht besser wissen, breit abgestützt.

Kinderstrafe als Schlager

Die Schweizer Mundart-Band »Stärneföifi« machte das Erziehungskonzept, Kinder zur Strafe ohne Abendbrot ins Bett zu schicken, zum Schlager: »Heicho, ohni Znacht is Bett« lautet ihr 1995 veröffentlichter erster Song, der aufgrund seines zufälligen Erfolgs 1994 in einer Schweizer Fernsehshow erst zur Gründung der Band geführt hatte. Der Song dreht allerdings im Refrain härter auf als im Titel: »Heicho, eis a d’Ohre und dänn ohni Znacht is Bett« (nachhause kommen, eine Ohrfeige kassieren und dann ohne Abendbrot ins Bett), heisst es da unverblümt. Die Band »Stärneföifi« etablierte sich im Kinderlieder-Segment. 2018 hat sie sich aufgelöst.

Wie geht das?

Wie geht das, in einem Kinderlied Kindesmisshandlung zu besingen und damit Charts zu stürmen? Dass Kinder sich über die Verballhornung elterlicher Drohungen, sie zu ohrfeigen und ohne Abendbrot ins Bett zu schicken, amüsieren, ist ein gutes Zeichen. Denn es zeigt, dass ihre Unterdrückung nicht soweit fortgeschritten ist, dass sie sich über die Verballhornung veralteter, autoritärer Erziehungskonzepte nicht mehr freuen könnten, sie – zusammen mit ihren Verbündeten von »Stärneföfi« – nicht dagegen rebellieren dürften. Trotzdem…

Trotzdem: Es sagt doch etwas aus über eine Kultur, wenn veraltete, autoritäre Erziehungskonzepte besungen werden. Das Gute daran ist, dass mit dem öffentlichen Besingen das Thema mitten in der Öffentlichkeit angekommen ist. Das Traurige daran ist, dass es immer noch, oder überhaupt, ein Thema ist.

Der »Stärneföfi«-Kindersong »Ohni Znacht is Bett« ist musikalisch an »Iko Iko« von den Dixie Cups angelehnt. 2009 nahm »Stärneföfi« zusammen mit den Dixie Cups eine neue Version von »Ohni Znacht is Bett« auf. Ob der Schlager schon den Status von Schweizer Folklore hat, muss an dieser Stelle aber offen bleiben.
In Schweizer Mundart entspricht der Ausruf »Sterneföifi« einem eleganten Ausdruck von Ärgernis oder Entsetzen, vergleichbar vielleicht mit »heiliger Bimbam«. Anzumerken wohl, dass Männer, die sich dieses Begriffs bedienten, in der harten Männerwelt kaum mehr ernst genommen würden (ausser allenfalls an einem »Umtrunk« der Studentenverbindung…).

Schweiz: Staatsanwaltschaften mit hoher Fehlerquote

Das Schweizerische „Beobachter“-Magazin berichtete 2022, dass seit Einführung der neuen Schweizerischen Strafprozessordnung per 1. Januar 2011 neu rund 90% aller Strafverfahren der Schweiz ohne Gerichtsverfahren durch Strafbefehle erledigt werden.

2023 verlieh der Beobachter den Preis für den „schludrigsten Strafbefehl des Jahres“ an die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis.

Der Beobachter berichtete über etliche Probleme, die aus der neuen Schweizer Strafprozessordnung resultierten. Rund 20% der Strafbefehle würden wieder aufgehoben. Am 7. März 2022 titelte der Beobachter: „Wir suchen den Fehlbefehl des Jahres 2022 – machen Sie mit!“

Kommentar: Auf einen Blick ist klar, in welche Richtung Strafverfahren, die neu nur noch von Staatsanwaltschaften ohne gerichtliche Beurteilung geführt werden, gehen müssen.

Viel Lärm um nichts.

Deshalb erstaunt der Aufschrei des Beobachters, rund 11 Jahre nach Einführung der neuen Strafprozessordnung, nicht: Die inhärente Problematik dieses Strafbefehls-Systems wäre von Anfang an absehbar gewesen.

Der schludrigste Strafbefehl des Jahres

Im Januar 2023 kürte der Beobachter den „schludrigsten Strafbefehl“ des Jahres 2022. Eine vom Beobachter zusammengesetzte Jury aus drei Fachpersonen kam zum Schluss, dass die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis des Kantons Zürich dieses Negativpreises würdig wäre, und zwar wegen eines Falls, über den der Beobachter am 1. April 2022 berichtete: „Zwei Tage in Haft, weil Staatsanwaltschaft schlampte“.

Der Idee zu diesem Preis liegt die Geschichte eines Mannes, der 75 Tage in Haft sass, ohne zu wissen warum, zugrunde: „Die grosse Macht der Staatsanwälte“.

Beim Versuch, dem Leiter dieser Staatsanwaltschaft den Preis persönlich zu überreichen, scheiterte der Beobachter jedoch. Im Bericht vom 26. Januar 2023, „Der Beobachter kürt den schludrigsten Strafbefehl des Jahres“, hielt Lukas Lippert fest: „Der Empfang war so frostig wie der Tag. Die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis in Dietikon ZH weigerte sich am 26. Januar, den Negativpreis für den Fehlbefehl des Jahres entgegenzunehmen. Beobachter-Chefredaktor Dominique Strebel konnte den Pokal nicht persönlich übergeben.“

Es ist bedauerlich, dass der Beobachter inzwischen das fast einzige redaktionelle Medium der Schweiz ist, welches Polizei und Justiz noch kritisch auf die Finger sieht. Mit Ausnahme allenfalls noch des staatlichen Schweizer Fernsehens sehen alle anderen Schweizer Medien heute bequem weg. Die Mainstream-Journos der grossen Verlagshäuser picken sich die Rosinen aus dem Kuchen des Weltgeschehens. Die journalistische Knochenarbeit im umquemen Umfeld von Machtmissbräuchen der Staatsgewalt, der Polizei und der Justiz, überlassen sie geflissentlich – wem auch immer.

Mit der Strafbefehls-Problematik der Staatsanwaltschaften befasst sich nun im Schweizer Kanton Zürich noch wenigstens auch die Justizkommission des Kantonsrats. Ob das genügt?