UNO-BRK: 80 Empfehlungen für menschenrechtskonforme Psychiatrie & Inklusion
Mit Veröffentlichung am 5. Oktober 2023 warf ein Blogpost der Berner Fachhochschule BFH die Frage auf: Wo steht die Schweiz bei den Menschenrechten in der Psychiatrie? Autor ist Prof. Dr. Dirk Richter, Leiter der Fachschaft psychische Gesundheit und psychiatrische Versorgung. Anlass zum Artikel gegeben hat das Staatenberichtsverfahren zur Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK). Dieses wurde in der Schweiz erstmalig 2022 durchgeführt, nachdem die Schweiz die UNO-BRK 2014 unterzeichnet hat. Das Ergebnis dieses Berichts sei „für die Schweiz wenig schmeichelhaft“, konstatiert Dirk Richter.
„Am 13. April 2022 veröffentlichte der Ausschuss seine abschliessenden Bemerkungen, womit der erste Berichtszyklus der Schweiz abgeschlossen wurde. Das Dokument enthält über 80 Handlungsempfehlungen und ist eine Aufforderung an die Schweiz, ihre Bemühungen bei der Umsetzung der UNO-BRK fortzusetzen.“ (Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB)
Wie sehen diese abschliessenden Empfehlungen aus?
Was die UNO von der Schweiz verlangt: Die 80 Empfehlungen der BRK-Expertinnen im Überblick
Bereich UNO-BRK | Wichtigste Kritik | Kernaussagen & zentrale Empfehlungen |
---|---|---|
Übergreifend (Art. 1-4) | • Rechtsrahmen spiegelt noch das „Invaliditäts-Modell“ • Fakultativprotokoll nicht ratifiziert | 1️⃣ Behindertenrecht in Bund / Kantonen systematisch ans Menschenrechtsmodell anpassen, diskriminierende Begriffe streichen. 2️⃣ Umfassende nationale Strategie + Aktionsplan auf allen Ebenen. 3️⃣ Fakultativprotokoll zügig ratifizieren. |
Diskriminierungsschutz (Art. 5) | Kein einheitliches Antidiskriminierungsgesetz; unzureichender Schutz bei Mehrfach- und Intersektionalität | Harmonisierung aller Gesetze, explizite Aufnahme von „mittelbar“, „mehrfach“, „intersektionell“, Klagerecht und Rechtsmittel sicherstellen. |
Frauen / Kinder (Art. 6 & 7) | Rechte von Frauen u. Mädchen m. Behinderung nicht im Gleichstellungsrecht verankert; Kinderrechte-Konzept entspricht nicht dem „übergeordneten Kindesinteresse“ | Geschlechterspezifische Perspektive in alle Behinderten- und Gleichstellungsgesetze integrieren; Ombudsstelle Kinderrechte mit klarer Beschwerdekompetenz + Barrierefreiheit schaffen. |
Zugänglichkeit (Art. 9) | Kein bundeseinheitlicher Masterplan; Privatgebäude & -dienste ausgenommen; EU-Normen teils niedriger als BRK | Nationale Zugänglichkeitsstrategie (Universal Design, Digital, ÖV, Bau) und Erweiterung des BehiG auf alle öffentlich zugänglichen Gebäude & Dienste. |
Rechtsfähigkeit (Art. 12) | System der Beistandschaft entzieht Menschen die Rechtsfähigkeit | Zivilgesetzbuch & Erwachsenenschutzrecht ändern; Modell der unterstützten statt ersetzenden Entscheidungsfindung einführen. (Eilt – vom Ausschuss als „dringend“ markiert) |
Freiheit/Sicherheit (Art. 14-16) | Zwangseinweisungen, Fixierungen, „Packing“, Gewalt in Einrichtungen | Zwangsbasierten Freiheitsentzug gesetzlich abschaffen; Heimunterbringung von Kindern beenden; alle Formen von Zwangsbehandlung, Fixierung, Isolation verbieten; robuste Beschwerdemechanismen einführen. |
Unabhängiges Leben (Art. 19) | Weiterhin weit verbreitete Heimunterbringung, fehlende persönliche Assistenz | De-Institutionalisierungsstrategie mit Zeitplan, Budget & Monitoring; Ausbau persönlicher Assistenz, barrierefreier & bezahlbarer Wohnraum in der Gemeinde. (Eilt – gehört zu Top-3-Prioritäten) |
Bildung (Art. 24) | Hoher Anteil an Sonderschulen; Ressourcenlücke im Regelsystem | Verfassungsrecht auf inklusive Bildung, Transfer von Ressourcen aus Sonderschulen, qualifizierte Lehrkräfte, Zugang zu Beruf & Hochschule. |
Arbeit (Art. 27) | Segregierter «geschützter» Arbeitsmarkt, Niedriglöhne | Aktionsplan für Übergang in den ersten Arbeitsmarkt, gleicher Lohn, Quoten / Anreize, Fokus auf Frauen mit Behinderung. |
Politische Teilhabe (Art. 29) | Wahlausschluss bei «dauerhafter Urteilsunfähigkeit», Leistungskürzungen bei politischem Engagement | Bedingungsloser Abbau aller Wahlrechtsausschlüsse; Schutz vor Verlust von Sozialleistungen bei politischer Aktivität. |
Daten & Monitoring (Art. 31-33) | Kein kohärenter Datenrahmen; Koordinationsmechanismus und Nationalinstitution zu schwach | Bundesweiter Datenstandard (aufgeschlüsselte Statistik), Stärkung Koordinationsstelle, Paris-konforme Menschenrechtsinstitution, systematische Einbeziehung der Selbstvertretung. |
Drei Punkte DER UNO-BRK, die der Ausschuss als besonders dringlich hervorhebt
- Nichtdiskriminierung (Art. 5) – lückenloser Schutz inkl. angemessener Vorkehrungen.
- Rechtsfähigkeit (Art. 12) – Abschaffung ersetzender Beistandschaft.
- Unabhängiges Leben (Art. 19) – Ausstieg aus institutionellen Wohnformen.
Kontext & Einordnung
- Zeitachse: Dialogsitzungen 14-16 März 2022; Annahme der Beobachtungen 23. März 2022; Veröffentlichung 25 März 2022. Der nächste Staatenbericht (kombinierte 2.–4. Periode) ist bis 15 Mai 2028 fällig.
- Ton des Ausschusses: Anerkennung für Fortschritte (NHR-Gesetz, Marrakesch-Vertrag), aber klare Forderung nach systemischer Angleichung an das Menschenrechtsmodell.
- Strategischer Hebel: Viele Empfehlungen verlangen kantonal-bundesweite Harmonisierung – gerade in Zugänglichkeit, Bildung, Justiz- und Fürsorgesystem.
Präzision und Stichhaltigkeit dieses ersten Staatenberichts sind hauptsächlich dem sogenannten Schattenbericht von "Inclusion Handicap" (IH), Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz, zu verdanken; dieser Schattenbericht war zusätzlich zum Bericht des politischen Establishments ("aus Bund und Kantonen") eingereicht worden. IH schreibt dazu in einer Medienmitteilung vom 3. März 2022:
"Die Schweiz wird im März 2022 zum ersten Mal zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) geprüft. Die Schweiz vertritt die Ansicht, die BRK schon weitgehend zu erfüllen. Der nun vorliegende Schattenbericht von Inclusion Handicap zuhanden des UNO-Behindertenrechtsausschusses zeigt klar: Die Schweiz hat die Anforderungen der BRK bei weitem noch nicht erfüllt. Mitbestimmung, Wahlfreiheit und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen sind nicht gesichert."
Kommentar:
In Anbetracht der Schweizer Lage gehen wir beim Zurich Observer davon aus, dass der FollowUp-Artikel anlässlich nächstem Staatenbericht diesen Titel tragen wird: "UNO-BRK: Schweiz weiterhin unter Druck"...
Medienberichte:
- Das staatliche Schweizer Fernsehen SRF berichtete am 31. März 2022 unter dem Titel „Menschen mit Behinderung – UNO-Ausschuss kritisiert Umgang mit Behinderten in der Schweiz“
- Die Aargauer Zeitung (Verleger Peter Wanner; CH Media) titelte am 31. März 2022: „UNO mahnt Schweiz wegen Inklusion von Menschen mit Behinderung“
- Der Tagesanzeiger (Tamedia/Tx Group) berichtete am 23. August 2022 unter dem Titel „Acht Jahre nach Inkrafttreten: So will der Kanton Zürich die UNO-Behindertenrechte umsetzen“
- Am 21. Mai 2024 berichtet die Thurgauer Zeitung (Verleger Peter Wanner; CH Media) über „Aktionstage im Thurgau: Wie Inklusion erlebbar gemacht werden kann“
Pressemitteilungen der Kantone:
- Medienmitteilung des Kantons Zürich vom 23. August 2022: „UNO-BRK: Aktionsplan Behindertenrechte Kanton Zürich für mehr Selbstverständlichkeit“
- Medienmitteilung des Kantons Zug vom 12. Oktober 2023: „Der Kanton Zug ruft zu den Aktionstagen Behindertenrechte 2024 auf“
- Medienmitteilung des Kantons Fribourg vom 13. Oktober 2023: „Aktionstage Behindertenrechte“
ZO / ChatGPT