UNO-BRK: Schweiz unter Druck

Der UN-Behindertenrechtsausschuss rügt Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie, Sonderschulen und fehlende persönliche Assistenz. Seine „Concluding Observations“ vom 13. April 2022 setzen Bund und Kantone unter Zugzwang – bis 2028 muss ein Kurswechsel erkennbar sein.

UNO-BRK: 80 Empfehlungen für menschenrechts­konforme Psychiatrie & Inklusion

Mit Veröffentlichung am 5. Oktober 2023 warf ein Blogpost der Berner Fachhochschule BFH die Frage auf: Wo steht die Schweiz bei den Menschenrechten in der Psychiatrie? Autor ist Prof. Dr. Dirk Richter, Leiter der Fachschaft psychische Gesundheit und psychiatrische Versorgung. Anlass zum Artikel gegeben hat das Staatenberichtsverfahren zur Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK). Dieses wurde in der Schweiz erstmalig 2022 durchgeführt, nachdem die Schweiz die UNO-BRK 2014 unterzeichnet hat. Das Ergebnis dieses Berichts sei „für die Schweiz wenig schmeichelhaft“, konstatiert Dirk Richter.

„Am 13. April 2022 veröffentlichte der Ausschuss seine abschliessenden Bemerkungen, womit der erste Berichtszyklus der Schweiz abgeschlossen wurde. Das Dokument enthält über 80 Handlungsempfehlungen und ist eine Aufforderung an die Schweiz, ihre Bemühungen bei der Umsetzung der UNO-BRK fortzusetzen.“ (Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB)

Wie sehen diese abschliessenden Empfehlungen aus?

Was die UNO von der Schweiz verlangt: Die 80 Empfehlungen der BRK-Expertinnen im Überblick

Bereich UNO-BRKWichtigste KritikKernaussagen & zentrale Empfehlungen
Übergreifend (Art. 1-4)• Rechtsrahmen spiegelt noch das „Invaliditäts-Modell“
• Fakultativprotokoll nicht ratifiziert
1️⃣ Behindertenrecht in Bund / Kantonen systematisch ans Menschenrechts­modell anpassen, diskriminierende Begriffe streichen.
2️⃣ Umfassende nationale Strategie + Aktionsplan auf allen Ebenen.
3️⃣ Fakultativprotokoll zügig ratifizieren. 
Diskriminierungs­schutz (Art. 5)Kein einheitliches Antidiskriminierungs­gesetz; unzureichender Schutz bei Mehrfach- und IntersektionalitätHarmonisierung aller Gesetze, explizite Aufnahme von „mittelbar“, „mehrfach“, „intersektionell“, Klagerecht und Rechtsmittel sicherstellen. 
Frauen / Kinder (Art. 6 & 7)Rechte von Frauen u. Mädchen m. Behinderung nicht im Gleichstellungs­recht verankert; Kinderrechte-Konzept entspricht nicht dem „übergeordneten Kindes­interesse“Geschlechterspezifische Perspektive in alle Behinderten- und Gleichstellungs­gesetze integrieren; Ombuds­stelle Kinderrechte mit klarer Beschwerde­kompetenz + Barrierefreiheit schaffen. 
Zugänglichkeit (Art. 9)Kein bundeseinheitlicher Masterplan; Privat­gebäude & -dienste ausgenommen; EU-Normen teils niedriger als BRKNationale Zugänglichkeits­strategie (Universal Design, Digital, ÖV, Bau) und Erweiterung des BehiG auf alle öffentlich zugänglichen Gebäude & Dienste. 
Rechts­fähigkeit (Art. 12)System der Beistandschaft entzieht Menschen die RechtsfähigkeitZivilgesetzbuch & Erwachsenenschutzrecht ändern; Modell der unterstützten statt ersetzenden Entscheidungs­findung einführen. (Eilt – vom Ausschuss als „dringend“ markiert) 
Freiheit/Sicherheit (Art. 14-16)Zwangs­einweisungen, Fixierungen, „Packing“, Gewalt in EinrichtungenZwangsbasierten Freiheits­entzug gesetzlich abschaffen; Heimunterbringung von Kindern beenden; alle Formen von Zwangsbehandlung, Fixierung, Isolation verbieten; robuste Beschwerde­mechanismen einführen. 
Unabhängiges Leben (Art. 19)Weiterhin weit verbreitete Heimunterbringung, fehlende persönliche AssistenzDe-Institutionalisierungs­strategie mit Zeitplan, Budget & Monitoring; Ausbau persönlicher Assistenz, barrierefreier & bezahlbarer Wohnraum in der Gemeinde. (Eilt – gehört zu Top-3-Prioritäten) 
Bildung (Art. 24)Hoher Anteil an Sonderschulen; Ressourcenlücke im RegelsystemVerfassungsrecht auf inklusive Bildung, Transfer von Ressourcen aus Sonderschulen, qualifizierte Lehrkräfte, Zugang zu Beruf & Hochschule. 
Arbeit (Art. 27)Segregierter «geschützter» Arbeitsmarkt, NiedriglöhneAktionsplan für Übergang in den ersten Arbeitsmarkt, gleicher Lohn, Quoten / Anreize, Fokus auf Frauen mit Behinderung. 
Politische Teilhabe (Art. 29)Wahl­ausschluss bei «dauerhafter Urteils­unfähigkeit», Leistungskürzungen bei politischem EngagementBedingungsloser Abbau aller Wahl­rechts­ausschlüsse; Schutz vor Verlust von Sozialleistungen bei politischer Aktivität. 
Daten & Monitoring (Art. 31-33)Kein kohärenter Datenrahmen; Koordinations­mechanismus und National­institution zu schwachBundesweiter Datenstandard (aufgeschlüsselte Statistik), Stärkung Koordinations­stelle, Paris-konforme Menschenrechts­institution, systematische Einbeziehung der Selbstvertretung. 

Drei Punkte DER UNO-BRK, die der Ausschuss als besonders dringlich hervorhebt

  1. Nichtdiskriminierung (Art. 5) – lückenloser Schutz inkl. angemessener Vorkehrungen.
  2. Rechtsfähigkeit (Art. 12) – Abschaffung ersetzender Beistandschaft.
  3. Unabhängiges Leben (Art. 19) – Ausstieg aus institutionellen Wohnformen.
     

Kontext & Einordnung

  • Zeitachse: Dialogsitzungen 14-16 März 2022; Annahme der Beobachtungen 23. März 2022; Veröffentlichung 25 März 2022. Der nächste Staatenbericht (kombinierte 2.–4. Periode) ist bis 15 Mai 2028 fällig. 
  • Ton des Ausschusses: Anerkennung für Fortschritte (NHR-Gesetz, Marrakesch-Vertrag), aber klare Forderung nach systemischer Angleichung an das Menschenrechts­modell.
  • Strategischer Hebel: Viele Empfehlungen verlangen kantonal-bundesweite Harmonisierung – gerade in Zugänglichkeit, Bildung, Justiz- und Fürsorgesystem.
Präzision und Stichhaltigkeit dieses ersten Staatenberichts sind hauptsächlich dem sogenannten Schattenbericht von "Inclusion Handicap" (IH), Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz, zu verdanken; dieser Schattenbericht war zusätzlich zum Bericht des politischen Establishments ("aus Bund und Kantonen") eingereicht worden. IH schreibt dazu in einer Medienmitteilung vom 3. März 2022: 

"Die Schweiz wird im März 2022 zum ersten Mal zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) geprüft. Die Schweiz vertritt die Ansicht, die BRK schon weitgehend zu erfüllen. Der nun vorliegende Schattenbericht von Inclusion Handicap zuhanden des UNO-Behindertenrechtsausschusses zeigt klar: Die Schweiz hat die Anforderungen der BRK bei weitem noch nicht erfüllt. Mitbestimmung, Wahlfreiheit und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen sind nicht gesichert."

Kommentar:
In Anbetracht der Schweizer Lage gehen wir beim Zurich Observer davon aus, dass der FollowUp-Artikel anlässlich nächstem Staatenbericht diesen Titel tragen wird: "UNO-BRK: Schweiz weiterhin unter Druck"...

Medienberichte:

Pressemitteilungen der Kantone:

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